Corona-Lockdown 2020: Wie erlebten Menschen mit kognitiver und mehrfacher Beeinträchtigung die Pandemie? Welche besonderen Herausforderungen machten ihnen und ihren Bezugspersonen zu schaffen? Céline Zbinden, Studentin an den Höheren Fachschulen, hat nachgefragt. Und dabei viele denkwürdige und persönliche Antworten bekommen.
Céline Zbinden studiert Sozialpädagogik HF und hat für ihre Abschlussarbeit Menschen in der Stiftung BWO zum Corona-Lockdown befragt. Entstanden ist ein Rückblick auf eine ausserordentliche Zeit, die diese Woche vor zwei Jahren ihren ersten Höhepunkt erreichte: Der Bundesrat erklärte am 16. März 2020 die «ausserordentliche Lage» und riegelte damit die Schweiz ab. Schulen, Geschäfte und Lokale, ausser Lebensmittelläden, schlossen ihre Türen. Die Schweiz stand still. Die Menschen gingen auf Distanz. Stillstand, Distanz und auch Angst: Das sind nicht einfache Gefühle für Menschen, die auf gewohnte Strukturen einer betreuten Institution angewiesen sind. Die bewegenden Aussagen von Betroffenen zeigen, wie Distanz schnell zur beklemmenden inneren Enge werden kann.
Alle Namen sind anonymisiert. Die Aussagen sind von den Betroffenen und der Institution freigegeben.
Nicht alles verstehen können
Auch Alters- und Pflegeheime sowie Einrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigungen mussten ihre Türen während des Corona-Lockdowns fast gänzlich schliessen. Die Bewohnenden konnten mehrere Wochen weder ihre Angehörigen besuchen, noch durften sie Besuch von aussen erhalten.
Es war schlimm. Es fühlte sich an, als würde mein Sohn eingesperrt werden. Obwohl die Institution die Situation sehr gut gemeistert hat und sich an die Empfehlungen und Vorschriften des Bundes hielt und wir es nicht besser hätten treffen können, war diese Zeit vor allem auf psychischer Ebene sehr anstrengend und belastend.
Angehörige eines Bewohners
Ähnliches erlebte die Mutter eines jungen erwachsenen Mannes mit einer Autismus-Spektrum-Störung, welcher die gesprochene Sprache kaum beherrscht:
Je länger der Lockdown dauerte, desto weniger teilte er sich mit, bis hin zum gänzlichen Verstummen. Es war für ihn nicht verständlich, was um ihn herum geschah. Und es führte dazu, dass er die Kommunikationsmöglichkeit des Telefonierens nicht mehr praktizierte. Die Möglichkeit, via Skype mit seinen Angehörigen in Kontakt zu treten, kannte er bisher nicht und er verstand nicht, wie es funktionierte.
Und weiter berichtete diese Mutter:
Irgendwann ertrug ich die Situation nicht mehr und ich weinte nach dem Skypen jeweils stundenlang, weil mein Sohn nicht auf mich einging und alles so unwirklich schien. Es war sehr schwierig.
Mutter eines jungen, erwachsenen Mannes, mit der Diagnose Autismus-Spektrum
Der Austausch fand dann nur noch zwischen den Eltern und den Mitarbeitenden der Institution statt. Aber trotz den vielen Einschränkungen hat diese Familie zu einem späteren Zeitpunkt auch wieder schöne Momente erlebt: beispielsweise als sie in die Berge fuhren, um Ski zu fahren. Weil sich aufgrund der Pandemie weniger Menschen auf den Pisten aufhielten, empfanden sie die Umgebung für Personen mit Autismus viel angenehmer.
Mit Corona schrumpft die Welt
Es zerriss mir jeweils fast das Herz, weil D. nicht verstand, warum er nicht nach Hause kommen kann. Ich habe zur eigenen Ablenkung sehr oft meine Wohnung sauber gemacht.
Mutter eines erwachsenen Mannes mit Trisomie 21 und Betreuerin
Diese Mutter berichtete auch, dass sich ihr Bewusstsein geändert habe. Das Nachhausekommen ihres Sohnes empfand sie nicht mehr als selbstverständlich. Somit sei die Zeit, die sie nun gemeinsam verbrachten, viel intensiver geworden. Zudem nehme sie sich vor, weniger streng mit ihm zu sein und ihm mehr Freiheiten zu lassen.
Fehlendes Licht am Ende des Tunnels
Man hat in dieser Situation die psychische Ebene der Betroffenen aussenvorgelassen. Eine Einrichtung für beeinträchtigte Menschen ist nicht dasselbe wie ein Pflegeheim für alte Menschen. Zudem wusste keiner, wie lange die Situation andauern würde. So etwas möchte ich nicht nochmal durchmachen müssen.
Betreuungsperson auf einer Wohngruppe
Es hat mich traurig gemacht.
Eine junge Frau mit Trisomie 21
Eine grosse Unsicherheit trat auf und man wusste nicht, wann das Ganze wieder vorüber ist. Die Nachbarn haben für uns eingekauft, weil wir aufgrund unseres Alters nicht mehr an die Öffentlichkeit durften. Das war speziell.
Schwester einer Bewohnerin
Corona macht erfinderisch
Einigen Bewohnenden kam es entgegen, dass nicht mehr ganz so viel los war, wie vor der Pandemie. Der Alltag war strukturierter, jeder Tag war ähnlich gestaltet und man ging nicht spontan aus dem Haus. Seit dem Lockdown führen wir zudem eine Beiz und einen Kiosk. Diese beiden Angebote kommen sehr gut an. Wir haben zudem mehr Zeit für kreative Angebote wie z.B. das Malen oder Basteln. Diese Aktivitäten gingen sonst immer etwas unter.
Betreuerin einer Wohngruppe
Es war nicht schlimm. Ich konnte ja mit dem Computer telefonieren. Zudem haben wir ein Beizli und einen Kiosk eröffnet, wo ich sonntags immer „gänggele“ konnte.
Bewohner einer Wohngruppe