Sich bewusst zu werden, was man kann. Das zu benennen und darzustellen – und schliesslich zu sein: Die Arbeit am eigenen Portfolio ist eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst und nicht selten ein hartes Stück Arbeit. Eine Arbeit, die sich aber lohnt. Denn die sichtbar gemachten Erfahrungen, Ressourcen und Kompetenzen lassen sich aussagekräftig und glaubwürdig nutzbar machen: bei der Berufswahl, bei der Bewerbung und beim Entwickeln seiner eigenen (beruflichen) Vision. Aus einem reflexiven Prozess wird ein gehaltvolles Produkt: Ein Portfolio, bunt wie ein Reisetagebuch seines eigenen Lebens.
Lernen mit dem Portfolio ist heute im Bildungsbereich breit etabliert. Und doch fristet diese Lernform in den Lehrplänen nach wie vor oft eher ein Nischendasein. Das ist schade, denn Lernen mit dem Portfolio stärkt eine Vielzahl überfachlicher Kompetenzen, die für eine erfolgreiche Lern- und Lebensgestaltung zentral sind: seine Ressourcen kennen und nutzen, Lernprozesse selbständig gestalten und eigene Ziele und Werte reflektieren und verfolgen.
Die BFF hat die Bedeutsamkeit der Portfolioarbeit früh erkannt und in Form eines Kompetenzportfolios an der Berufsbildung etabliert. Denn jede Berufsschule setzt den Auftrag des Mittelschul- und Berufsbildungsamtes (MBA) zur Laufbahnplanung individuell im Schullehrplan um. Die Arbeit am Kompetenzportfolio hat in der Berufsbildung der BFF unterdessen einen fest verankerten Stellenwert. Die BFF arbeitet mit dem umfangreichen Instrumentarium des «effe»-Portfolios: Ein 1996 entwickeltes Arbeitsinstrument, das es einer Person ermöglicht, eine Bestandsaufnahme seiner Kompetenzen, Ressourcen und Fähigkeiten vorzunehmen. Und daraus schliesslich eine Vision zu definieren: beruflich, privat oder in der Ausbildung.
Portfolioarbeit ist eine Zeit der Reflexion. Eine Zeit, um zu verstehen, wer man heute ist. Und eine Zeit, um zu klären, wer man morgen sein will. Dieser Prozess läuft in vier Phasen ab: von der Sensibilisierung bis zum Transfer. Was in diesen Phasen stattfindet, zeigen exemplarisch die folgenden vier Kapitel.
Phase 1: Finden und aufdecken, was da ist
Stellen Sie sich eine Bibliothek vor ohne Katalog und Verzeichnis. Umgeben von einer Fülle von Literatur finden Sie dennoch: nichts. Bestenfalls machen Sie eine Zufallsentdeckung, aber eine systematische Recherche ist nicht möglich. Wie die Bücher, die wir zum Bereitstellen in der Bibliothek kategorisieren, gilt es auch die eigenen Kompetenzen und Erfahrungen bei der Portfolioarbeit zuallererst zu inventarisieren.
Dabei entsteht ein exemplarischer Bestand unserer momentanen Selbst- und Fremdwahrnehmung: Was kann ich gut? Was mache ich gerne? Wo (und für was) bekomme ich Komplimente? Welche Lebensereignisse haben mich geprägt? Welche persönlichen Ressourcen habe ich bei diesen Ereignissen eingesetzt? Wer wäre ich in einer Schiffscrew: Kapitänin, Steuermann, Funkerin, Matrose, Köchin, Arzt? Und: Was habe ich bisher in meinem Leben schon alles gemacht? Welche formellen Nachweise habe ich in der Tasche?
«Zu Beginn des Kurses erwähnen viele Lernende, dass sie diesen Kurs nicht nötig haben, weil sie wissen, wo ihre Stärken liegen.»
Franziska Braun, Portfolioverantwortliche BFF
Die Portfolioverantwortliche der BFF, Franziska Braun, sagt dazu: «Zu Beginn des Kurses erwähnen viele Lernende, dass sie diesen Kurs nicht nötig haben, weil sie wissen, wo ihre Stärken liegen. Zum Schluss ist dann doch ein Meilenstein gesetzt und die vorgängig bekannten Stärken sind ausformuliert und greifbarer geworden. Wir möchten keinen Papiertiger produzieren, sondern einen persönlichen Prozess initiieren. Darum steht auch viel Austausch zu Selbst- und Fremdeinschätzung, Feedback zu Präsentationen und Zusammenarbeit im Vordergrund.»
Die erste Phase der Portfolioarbeit – das Finden, Aufdecken und Inventarisieren – ist wichtig. Denn in ihr sammeln die Lernenden Spuren ihres Selbst, an denen sie sich auf dem Entwicklungsweg orientieren können. Ihr Rohmaterial, jederzeit griffbereit – und zum Feinschleifen parat.
Phase 2: Analysieren seiner Ressourcen unter der Lupe
Die nächste Phase nimmt das persönliche Inventar genauer unter die Lupe. Dabei beschreiben die Lernenden ausgewählte, eigene Aktivitäten und Erlebnisse «ganz genau», das heisst mithilfe verschiedener schriftlicher und mündlicher Reflexionsmethoden. Bei der Analyse der Lebens- und Arbeitserfahrungen identifizieren die Lernenden persönliche Ressourcen und Potenziale. Aus Erlebnissen und Tätigkeiten kristallisieren sich Ressourcen heraus.
Mit unseren Ressourcen und Potenzialen vertraut zu sein: Das ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis, dass es «in Ordnung» ist, wie ich bin. Und wie andere sind. Lernende werden sich bewusst, wie sie ihre individuellen Ressourcen einsetzen können, um eine Aufgabe anzugehen und zu lösen. Und sie üben auch, positiv über sich selbst zu berichten, indem sie nicht nur Kreuzchen in einem Testbogen setzen, sondern ihre Ressourcen und Kompetenzen mit persönlichen Erfahrungen untermauern. Positive Nebeneffekte: Die Lernenden trainieren ihre Sprachsensibilität. Und sie stärken ihr (Selbst-)Bewusstsein. Denn indem sie festhalten, wo sie Stärken entwickelt und eingesetzt haben, werden diese Stärken für sie wertvoll – und zu einem bewussten Teil von ihnen.
Die Lupe deckt auf, was ohne Werkzeug nicht sichtbar wäre. Die Lernenden erarbeiten sich einen Analyse-Werkzeugkoffer, der ihnen hilft, ihre Stärken herauszuschälen und für Aussenstehende wahrnehmbar und nachvollziehbar zu machen. Mit den erlernten Methoden können die Lernenden das Portfolio im weiteren Lebensverlauf weiterführen. So wird es zu einem wertvollen Begleitinstrument zur persönlichen Reflexion seines Tuns und Werdens.
Phase 3: Zusammenfügen, was zusammen gehört
Die eigenen Ressourcen sind im Portfolio aufgedeckt, präzise visualisiert und benennt. Nun geht es darum, die Ressourcen zu einem sinnvollen und stimmigen Ganzen zu verknüpfen: zum eigenen Kompetenzprofil.
Dazu erstellen die Lernenden zusammengehörende Ressourcenbündel und geben ihnen einen passenden Titel: Ein persönliches Kompetenzfeld ist gefunden und benennt. Doch das Kompetenzprofil geht noch einen Schritt weiter. Die Lernenden beschreiben die identifizierten Kompetenzen, halten die Bedeutsamkeit fest. Und sie formulieren dazu Beispiele aus ihrem Alltag. Vervollständigt wird das Kompetenzprofil mit Anforderungen aus dem Arbeitsmarkt, die mit den jeweiligen Kompetenzen «matchen». Alles fügt sich zusammen.
«Es ist ein persönliches und berufliches Mittel, um sich zu befreien, indem man wieder Kontakt zu sich selbst, seiner Identität, seiner Kultur und seiner Einzigartigkeit aufnimmt.»
Lena Strasser, effe
Der persönliche Prozess hat bei der ursprünglichen Methode von «effe» einen grossen Stellenwert. Lena Strasser von «effe»: «Es ist ein persönliches und berufliches Mittel, um sich zu befreien, indem man wieder Kontakt zu sich selbst, seiner Identität, seiner Kultur und seiner Einzigartigkeit aufnimmt. Eine Art, Abstand gewinnen, um nach und nach seine Bremsen und einschränkenden Überzeugungen loszulassen, die einen oft daran hindern, voranzukommen.»
Die Lernenden präsentieren ihr Kompetenzprofil schliesslich in der Gruppe. Die anschliessenden Diskussionen sind wertvolle und wichtige Erkenntnisschritte im reflexiven Prozess. Denn die Gruppe hat eine tragende Rolle: «Sie ermöglicht es, anerkannt zu werden und fördert gleichzeitig die Sozialisierung und den Austausch des eigenen Selbst», hält Lena Strasser fest. Und Franziska Braun bemerkt erfreut, dass die Lernenden in der Abschlusspräsentation ihre Kompetenzen sehr differenziert erklären können. Hinzu komme, dass die Lernenden an Bewerbungsgesprächen ihre Kompetenzen glaubhaft anhand der herausgearbeiteten Alltagsbeispiele erklären können.
Phase 4: Anwenden und «Zukunft finden»
Die reflexive Praxis der Portfolioarbeit stärkt die eigene Identität und das Selbstvertrauen, deckt Ressourcen und Potenziale auf und identifiziert sie als eigene Kompetenzen. Damit ist diese Arbeit an sich schon hochgradig bedeutsam. Das Kompetenzportfolio der BFF geht aber noch einen Schritt weiter. Denn in der letzten Phase werden die Erkenntnisse nutzbar gemacht für die Laufbahnplanung.
Das Portfolio ist eine persönliche Datenbank für die berufliche Orientierung. In ihm finden die Lernenden aussagekräftige Textelemente, weil diese authentisch und glaubwürdig sind. Die Texte dienen den Lernenden unmittelbar als Formulierungshilfen für Bewerbungsunterlagen und zur Vorbereitung für Vorstellungsgespräche.
Und nicht zuletzt: Das Portfolio bestärkt die Lernenden, an ihre Träume zu glauben. Träume, die womöglich durch die vertiefte Auseinandersetzung mit sich selbst mehr als nur einen Hauch von Realität enthalten. Denn abschliessend – mit vollem Rucksack an Bewusstheit über sein eigenes Können und Wollen – schickt das Portfolio die Lernenden auf eine Zeitreise in ihre Zukunft: Bildhaft gestalten die Lernenden, wie sie sich ihr Leben in sieben Jahren ausmalen.
Seine Zukunftsvision in sieben Jahren: Bis dahin kann viel passieren. Deshalb lohnt sich auch der Blick auf die Gegenwart, denn die reflexive Praxis der Portfolioarbeit verändert unsere Sichtweise auch im Hier und Jetzt. Das stellt auch Samantha Buri, Lernende Fachperson Betreuung, einleuchtend fest: «Durch das Portfolio kann man schon bei den einfachsten Handlungen im Alltag, zum Beispiel beim Türe aufhalten, die Hilfsbereitschaft und die Sozialkompetenz erkennen. Dieser Blickwinkel, denke ich, ist für viele Lernende sehr hilfreich, wenn man sich zuvor noch nie mit solchen Tätigkeiten vertieft auseinandergesetzt hat.»