Die einen wollen, die anderen müssen: Erwerbsarbeit und weitere Lebensbereiche vereinbaren. Und die Lösungsmodelle sind so vielseitig wie die verschiedenen Ansprüche und Bedingungen der Haushalte selbst. Aber erst wenn die Rahmenbedingungen stimmen, kann eine partnerschaftliche Verteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit ausgehandelt werden: Struktur, Kultur und Klima des Arbeitsortes bilden entscheidende Leitplanken beim Entscheidungsprozess für ein bestimmtes Arbeitsmodell. Und auch der gesetzliche Rahmen sowie gesellschaftliche Werte und Entwicklungen prägen die Vereinbarkeit massgeblich mit. Genaues Hinschauen lohnt sich also. Zum Beispiel durch die Augen des Modells UND.
Die BFF hat mit dem Modell UND ein Instrument gefunden, um Kennzahlen der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und weiteren Lebensinhalten zu analysieren. Das Modell der gleichnamigen Fachstelle ist wissenschaftsbasiert und praxiserprobt. Die BFF wurde Anfang 2022 mit diesem Prädikat rezertifiziert. Und sie ist in den kommenden zwei Jahren Teil des Projekts «Vereinbarkeit messen». Das Projekt des Competence Centre for Diversity and Inclusion (CCDI) und der Fachstelle UND erforscht weitere Kennzahlen zur Vereinbarkeit. Gleichzeitig wirken die Praxispartnerinnen und Praxispartner (also auch die BFF) bei der Entwicklung relevanter Kennzahlen mit und profitieren dadurch von den Ergebnissen der Analyse, indem mit den Ergebnissen positiv auf die betriebliche Vereinbarkeit eingewirkt werden kann.
Verschiedene Lebensinhalte in Wechselwirkung
Erwerbsarbeit, Haushalt, Beziehungen, Betreuungsarbeit, Freundschaften, Hobbies: Unser Alltag ist facettenreich, bunt – und individuell. Etwas ist für uns aber alle gleich: Je nachdem wie gewinnbringend und entlastend wir unsere verschiedenen Aktivitäten unter einen Hut bekommen, erleben wir die Vereinbarkeit als mehr oder weniger gelungen. So definiert auch das Modell UND die Vereinbarkeit als Mass dessen, wie gut die verschiedenen Lebensinhalte in Einklang gebracht werden können. Und gruppiert sie in fünf Bereichen: Beruf; Haushalt; Ich; Soziale Beziehungen; Gemeinwohl. Das Modell UND stellt die Bereiche als Flächen dar, die sich mehr oder weniger überschneiden. Denn sie stehen in einer konstanten Wechselbeziehung zueinander. Die Fachstelle schreibt: «Die Lebensinhalte können erfolgreich nebeneinander existieren, einander gegenseitig bereichern und ergänzen, dazu dienen, Belastungen im jeweils anderen Bereich zu kompensieren, und sie können zueinander auf verschiedene Arten in Konflikt stehen.»
Nebst den zu vereinbarenden Lebensbereichen wirken verschiedene Einflussfaktoren limitierend oder unterstützend auf die Vereinbarkeit: zeitliche und räumliche Aspekte, finanzielle Belange, instrumentelle und emotionale Unterstützung sowie die Verankerung in übergeordneten Grundsätzen und Strategien. Bei diesen Einflussfaktoren zeigen sich wiederum die eingangs erwähnten Abhängigkeiten der unterschiedlichen Handlungsebenen: Während auf individueller Ebene z.B. der Wohnort gewählt wird, definieren die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber betriebliche Faktoren wie z.B. mögliche Teilzeitmodelle. Der Staat bestimmt seinerseits im Arbeitsgesetz die Rahmenbedingungen wie die Wochenarbeitszeit und minimale Ferienwochen.
Vereinbarkeit und Gleichstellung
Die Vereinbarkeit von Beruf und weiteren Lebensinhalten ist ein Kernelement auf dem Weg zur tatsächlichen Gleichstellung. Das dies gelingt, braucht es förderliche Rahmenbedingungen. Auf der Seite der Erwerbsarbeit sind dies insbesondere: Lohngleichheit, Teilzeitarbeitsmodelle und auch flexible Arbeitszeiten.
Diesbezügliche Untersuchungen zeigen deutlich, dass noch immer sehr grosse Unterschiede beim Anteil bezahlter und unbezahlter Arbeit von Frauen und Männern bestehen: Männer sind, unabhängig von der Familiensituation, nach wie vor nahezu vollständig erwerbstätig. Bei den Frauen ist dieser Anteil generell niedriger und variiert je nach Familiensituation sehr stark. Zwei Drittel der unbezahlten Arbeit wird nach wie von Frauen erledigt.
Hier setzt das Modell UND an und definiert Vereinbarkeit auch als geschlechtsspezifische Frage: Vereinbarkeit bedeutet für Frauen, dass sie am Erwerbsleben teilnehmen können. Für Männer repräsentiert sich die Vereinbarkeit in der Teilhabe am Familienleben. Interessant ist in diesem Kontext, dass einer repräsentativen Umfrage von Pro Familia Schweiz zufolge neun von zehn Männer gerne weniger arbeiten möchten. Dieser Trend dürfte sich angesichts einer sich wandelnden Werteorientierung der jüngeren Generationen in der Tendenz noch verstärken.
Und: Vereinbarkeit als ein gelungenes Jonglierkunststück mit den Bällen unserer Lebensinhalten ist möglicherweise oft auch eine Illusion, ein Zaubertrick mit gezinkten Karten. Denn der Statistik zufolge opfern wir heute in der Realität zugunsten der Erwerbs- und Familienarbeit insbesondere unsere Eigenzeit. So ist die Gesamtarbeitsbelastung in den letzten Jahren stetig angestiegen, mit entsprechenden Folgen für die Gesundheit. Die Zeiten der Erholung, Entschleunigung, die Momente des Nichtstuns: Sie werden immer rarer oder bleiben ganz auf der Strecke.
Dran bleiben: Die BFF beteiligt sich an Pilotprojekt
Die BFF ist nun Teil des Projekts «Vereinbarkeit messen» der Fachstelle UND sowie des CCDI der Universität St. Gallen. In einem ersten Schritt entwickelt das Projekt Kennzahlen zur betrieblichen Vereinbarkeit. Anschliessend folgt eine Pilotdurchführung mit den Praxispartnerinnen und Praxispartnern, um anhand der erhobenen Kennzahlen Massnahmen zu entwickeln, die zu einer Verbesserung der Vereinbarkeit führen sollen. Die Umsetzungen der Massnahmen werden abschliessend durch das Projekt evaluiert.
Die Ziele des Projekts sind, eine vertiefte Analyse zur Vereinbarkeit zu entwickeln, Vereinbarkeit innerhalb und zwischen Organisationen zu messen, sowie die empirischen Grundlagen zur Förderung der Vereinbarkeit in Organisationen zu verbessern.
Erwerbsarbeit und weitere Lebensbereiche vereinbaren: Das ist eine Aufgabe, zu der in den letzten Jahren bereits einige Lösungsschritte gefunden werden konnten. Viele Anliegen, insbesondere auch hinsichtlich der Gleichstellung, bleiben aber nach wie vor ungelöst. Die Kennzahlen, die mit dem Projekt UND sichtbar werden, sind wichtige Werte für kommende Lösungsansätze.